Montag, 28. September 2020

Schmähkritik des Tages (41)

 
Heute: Wiglaf Droste und Elfriede Hammerl über Benehmen und Mittelschichtswutbürger

"Höflichkeit macht den Umgang miteinander angenehmer oder zumindest erträglicher. […] Dazu bedarf es nicht eines großbürgerlichen Elternhauses, das ich auch nicht habe, sondern lediglich der Selbstachtung, die man mit anderen teilt. […] Man kann Anstandsregeln gezielt brechen, etwa durch Beleidigungen im Dienst der Aufklärung und des guten Geschmacks. Aber das sollten bewusste Entscheidungen sein. Und nicht das dumme Pöbeltum, das man zum Beispiel in Kreuzberg jeden Tag ertragen muss, dem Stadtteil, in dem ich bis vor Kurzem gelebt habe. Das ist ein Arschgeigentum, das nichts mit Freiheit, aber viel mit Rücksichtslosigkeit zu tun hat. Freiheit bedeutet, sich entscheiden zu können - und nicht sich gehen zu lassen. [...]

[Das] Problem sind nicht die bürgerlichen Sitten, sondern ihr Fehlen. Wer in der »Taz« minimale Höflichkeit eingefordert hätte, wäre als der Kleinbürger abgestempelt worden, der in Wirklichkeit in all diesen vermeintlichen Anti-Bürgern wohnt. Das ist sehr deutsch. In Ländern wie Italien, Frankreich oder Großbritannien ist diese Freude an der Formlosigkeit undenkbar. Doch die Deutschen halten schlechte Manieren offenbar für einen Ausdruck innerer Werte. Deshalb lieben sie es ja auch so, angeschnauzt und belehrt zu werden. Anders kann ich mir jedenfalls die Verehrung der Deutschen für Helmut Schmidt nicht erklären." (brand eins, 01. Januar 2016)

"Wer Abstand hält und Maske trägt bzw. von anderen erwartet, dass sie das ebenfalls tun, läuft Gefahr, als autoritätshöriges Schaf gesehen und verachtet zu werden. […] [Weil] alle möglichst sexy rüberkommen wollen, prahlt jeder Duckmäuserich mit seinem angeblich total unangepassten Naturell. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Auflehnung aus Egoismus (wozu auch die Auflehnung um der Auflehnung willen gehört, die der eigenen Imagepflege dient) und gut begründeter Auflehnung gegen autoritäre Strukturen. Deshalb ist das Maskenverweigern in Pandemiezeiten genauso wenig eine revolutionäre Heldentat, wie dem Nachbarn an die Hausmauer zu pinkeln." (profil, 26. September 2020)

Anmerkung: Eine Art Nachtrag zum gestrigen Beitrag. Ich kann nur von mir und meinen Erfahrungen reden. Begreift man Höflichkeit nicht als steifes, formelhaftes Verhaltenskorsett, sondern ganz pragmatisch als Schmiermittel, den Alltag für alle angenehmer zu machen, wird vieles einfacher. So bin ich es seit langem gewohnt, einer hinter mir gehenden oder mir entgegenkommenden Frau die Tür aufzuhalten bzw. ihr den Vortritt zu lassen (bin ich nicht allzu sehr in Eile, biete ich normalerweise auch Hilfe beim Kinderwagentragen an). Das ist keine Sache, keine große Anstrengung und man vergibt sich nichts dabei. Noch nie wurde ich darob angeranzt von wegen, eine emanzipierte Frau könne das sehr gut alleine oder als Patriarchenschwein beschimpft. Im Gegenteil, fast alle goutieren das und es freut mich, einen Menschen zum Lächeln gebracht zu haben. Der Trick ist, kein Gewese darum zu machen, sondern das so zu tun als sei es das Normalste von der Welt. Vielleicht bin ich aber auch nur zu selten in Berlin.

Schlechtes Benehmen mit Authentizität zu verwechseln oder mit Offenheit, seine Mitmenschen ungefragt mit seinem Privaten zu belästigen und noch die überspannteste und hirnloseste Protestiererei als revolutionäre Heldentat zu feiern, sind vielleicht keine spezifisch deutschen Verhaltensweisen, aber in Deutschland in der Tat oft anzutreffen. Freundlichkeit, die nicht 'von innen' kommt, gilt als falsch und verlogen, daher im Zweifel als überflüssiger Ballast, sich keinen Zwang antun als locker. Das ist übrigens, entgegen einem verbreiteten bürgerlich-konservativen Irrtum, keine Folge von 1968. Schon im 19. Jahrhundert grenzte man urwüchsige deutsche 'Kultur', wo man das Herz auf der Zunge trägt, ab gegen 'falsche' welsche Zivilisiertheit.





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