Dienstag, 15. September 2020

Warnsinn am Wahntag

 
"Es ist alles so unlogisch: Dass diejenigen, die Covid-19 für eine Verschwörung halten, die sich die da oben (und Bill Gates) ausgedacht haben, um sie zu unterdrücken und zwangszuimpfen, sich nun Schweden als Sehnsuchtsland ausgeguckt haben, zum Beispiel, weil dort alles so frei und schutzmaskenlos und so weiter ist – ausgerechnet Schweden, wo Demonstrationen wie die der »Querdenker« in Berlin nicht hätten stattfinden dürfen, weil dort pandemiebedingt öffentliche Versammlungen von mehr als 50 Personen bis auf weiteres verboten sind." (Elke Wittich)

Glaubte man etwa dem Sicherheitsexperten Attila Hildmann, dann sollte am Donnerstag letzter Woche der "Startschuss" fallen "zur endgültigen Unterwerfung des deutschen Volkes" (Thorwarth). Die Sirenen des Teufels sollten die ganze Nation mit "qualliegenden Mittelfrequenzen" [sic] malträtieren oder, den Erkenntnissen seines nicht minder alerten Kollegen Xavier Naidoo zufolge, "Schwingungen und das Erwachen" blockieren.

Oder es sollte sich, Hildmann zufolge, um eine Warnung handeln vor dem 'deutschen 9/11', der von der Regierung geplanten Zerstörung des Kernkraftwerks Brokdorf Beweis: Die Bundesregierung hat 2019 knapp 190 Mio. Jodtabletten gekauft. Das stimmt zwar, doch bleibt die Frage, wieso eine Regierung, die die Absicht hegt, möglichst viele umzubringen, die Bevölkerung, darunter ihre ärgsten Widersacher, vorher warnen bzw. vorab Mittel bereitstellen sollte, um die möglichen Folgen zu lindern? Egal. Kohärenz und Logik werden überschätzt

Andere wiederum sahen in dem geplanten Gewarne ein Zeichen laufender Kriegsvorbereitungen gen Russland. Die Bevölkerung solle psychologisch vorbereitet werden. Aha.

Nun ja, bei mir wären durchaus Jugenderinnerungen hochgekommen an die Achtziger. Da war wegen Kaltem Krieg nämlich andauernd Probealarm. Einmal im Jahr jaulten, wenn’s mich nicht täuscht, (in der DDR, wie zu erfahren ist, gar wöchentlich) die Sirenen für mehrere Minuten. Eine Zeitlang pflegte sich unser Klassenclown dann immer unter den Tisch zu werfen mit den Worten: "Die Russen kommen!" Duck and cover. Haben wir gelacht. Einmal war ich auf einer Gemeindefreizeit im Norddeutschen. Dort hielt die NATO gerade Tiefflugübungen ab. Und zwar so tief, dass man die Hoheitszeichen erkennen konnte. Für uns Elfjährige, die wir unsere Düsenjäger-Quartette auswendig konnten, ein echter Spaß.

Oder Lautsprecherwagen. Bei Smog hier im Ruhrpott kamen die zum Einsatz. "*Bratz* Sä sänd aufgeforderrt *knax*, äm Hause zo bleiben *schnarr* ond Tören ond Fänster fäst geschlossen…"

Und, was war am Donnerstag? Nichts war. Nada. Totenstille. Seltsam. Okay, vielleicht haben die Eliten sich so gedacht: Verdammt, der Hildmann und der Naidoo sind uns auf die Schliche gekommen. Mist, Mist, Mist, wir sind am Arsch! Abblasen, das Ganze, sofort, oder der Umsturz droht. So funktioniert ja Politik in den Köpfen nicht weniger. Kann aber auch sein, und das ist wahrscheinlicher, dass es technische Probleme gegeben hat und die Warn-Infrastruktur in ungefähr dem Zustand ist wie das Netz der Deutschen Bahn nach gut 25 Jahren des Kaputtsparens. Das jedenfalls passte durchaus ins Gesamtbild.

Kennen Sie eigentlich Moppelkotze? Im ehemaligen West-Berlin war das ein Eintopf aus diversen Konserven, meist grüne Bohnen und Rindfleisch, aus Beständen der Senatsreserve, die sich bei der so genannten Wälzung sehr günstig bekommen ließen. Bis zu 700 Lager gab es zeitweise in West-Berlin. 180 Tage sollte die Stadt durchhalten, falls Genosse Iwan auf die Idee kommen sollte, die Nummer mit der Blockade zu wiederholen.

Dass es um die Infrastruktur früher, also vor 1989/90, auch sonst deutlich besser bestellt war in diesem Lande, ist keine nostalgische Verklärung, sondern hatte etwas mit dem erwähnten Kalten Krieg zu tun.

"Weil alles auf einen möglichen Kriegsfall hin ausgerichtet war, herrschte während des Kalten Krieges im Vergleich zu heute quasi Staatssozialismus. Die Infrastruktur musste immer top in Schuss und mehrfach redundant sein, und darüber wurde auch nicht groß diskutiert. Das Militär stand nicht unter Sparvorbehalt, sodass nicht nur die Rüstungsindustrie prächtig verdiente. In der Provinz stellten Bundeswehrstandorte und die Einrichtungen der Alliierten zahlreiche Arbeitsplätze. Überhaupt war das platte Land wichtig, denn dort befürchtete man im Ernstfall die großen Truppenbewegungen. Auch die Kohle hier im Ruhrgebiet wurde ja nicht bloß aus reiner Menschenfreundlichkeit den armen Bergleuten gegenüber subventioniert, sondern weil Unabhängigkeit von Kohleimporten noch eine andere Rolle spielte.

Das gilt übrigens auch für Großbritannien und die USA, die Mutterländer des neoliberalen Turnaround ab Ende der Siebziger. Auch deren Staatsquote war enorm. In Großbritannien wurden zentrale Versorgungsdienste wie Energie, Straßenbau, Eisenbahn und Telekommunikation erst in den Neunzigern privatisiert." (De Russ' kütt!)


Man kann über die schandbare Performance des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe letzte Woche natürlich schadenfroh sein oder auch erleichtert, je nach dem. Aber man sollte es sich überlegen.



4 Kommentare :

  1. Oh ja, als Mensch welcher noch die bipolare Welt(Ordnung) kennt, kann ich mich noch sehr gut erinnern.
    Beispielsweise an die jährlichen großen Hebstmanöver, gerade hier im nordeutschen Raum.
    Die Bauern haben geflucht weil die Panzer ihre Äcker umgepflügt haben, die Autofahrer weil der Lehm sich in den Panzerketten festgesetzt hatte und somit die Straßen völlig verdreckten und manche Dörfer waren mit Bundeswehrsoldaten (damals noch mit 500.000 Mann) zugeschissen.
    Es gab eine tolle Punkband aus Verden die sich Offensive Herbst 78 (OH 78), also ihrem Entstehungsjahr und auch dem Jahr mit dem bis dato grössten Herbstmanöver, selbiger Bezeichnung.
    Später ist ein Bandmitglied ausgestiegen und sie nannten sich von da ab OH 87.
    Die haben für solche Hirsehitlers und Co. auch gleich den passenden Song geschrieben.

    https://youtu.be/aWOQOrPeNRA

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    1. Und wenn man, wie ich, qua Verwandtschaft gelegentlich in Ostwestfalen unterwegs war, dann war es eine völlig normale Sache, dass Panzerkolonnen die Straßen blockierten. Sennelager.

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  2. Nichts gegen Rheinland-Pfalz, das mit Flugplätzen, Stützpunkten, Kasernen und Manövergelände quasi zugeschissen war. In unserem Stadtgebiet waren Atomwaffen stationiert, nur wenige Kilometer von meinem Kinderzimmer entfernt.

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